SEBASTIAN WISWEDEL
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INFORMELLER URBANISMUS IN PEKING
Propagandaplakat
Deng und das Experiment der Stadt
Stadt
chinesische Stadtproduktion
Hutongs
Hutongs
informelle Architektur
informelle Architektur
(Bild: Eduard Koegel )
informelle Architektur
Fenster-Laden in Peking
(Bild: Eduard Koegel )

Neue Marktwirtschaft in China
Mit der programmatischen Metaphorik einer volkstümlichen Redeweise durch Deng Xiaoping, „es macht nichts, ob die Katze gelb oder schwarz ist, solange sie nur Mäuse fängt“ 1 wurde in den achtziger Jahren eine neue Phase der chinesischen Politik mit Schwerpunkt auf wirtschaftliche Effektivität und Ökonomie eingeleitet. Mit der „Politik der offenen Tür“ übernimmt China das kapitalistische Marktmodell der Weltwirtschaft und wird somit zu einem ökonomischen und soziokulturellen Laboratorium. Schauplatz dieses Experiments sind vor allem die Städte und die neuen Sonderwirtschaftszonen. Durch Abkehr von der Planwirtschaft und einer daraus resultierenden wirtschaftlichen Liberalisierung sollen nun Effektivität und technisches Wissen den Sozialismus Chinas ökonomisch stärken. Diese Ideologie nutzt die Marktwirtschaft im Dienste des Kommunismus. Chinas Binnenwirtschaft wächst zur Zeit weltweit am schnellsten. Die ungleiche Verteilung des Geldes vergrößert stetig die Kluft zwischen armer Landbevölkerung und städtischen Reichen.

Chinesische Stadtproduktion
Wichtige Stadtentwicklungsreformen, wie die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen, und Dengs wirtschaftliches Programm eines „Sozialismus mit chinesischem Charakter“ werden zeitgleich eingeleitet. Nach der antistädtischen Haltung der maoistischen Ära, die das kollektive Leben auf dem Land propagierte, wurde ein bis heute andauerndes Städtewachstum entfacht. Die Zahl der Städte ist von 1980 bis 1995 um fünfhundert Metropolen gewachsen, darunter sind drei Dutzend Millionenstädte. Die Architektur setzt sich aus einem bizarren Mischmasch von Glasfassaden und Steinplatten zusammen, die in einer scheinbar unendlichen Menge von postmodernen Stilen variiert. Die Geschwindigkeit der Bautätigkeit ist enorm. Die Verschwendung von Ressourcen, Verlust von Agrarland und Umweltverschmutzung sind die Konsequenzen eines verzweifelt vorangetrieben Fortschritts. Die sehr unterschiedlichen Erscheinungen der modernen Architektur Chinas können laut dem chinesischen Architekten Stan Fung als „Erschaffung einer nationalen Allegorie von Fortschritt und Entwicklung“ 2 interpretiert werden. Mit der Übernahme des westlichen Marktmodells wird nun auch dessen ästhetische Oberfläche beansprucht. Die Fassaden der meisten neuen Gebäude werden durch ihre amerikanisch anmutenden postmodernen Versatzstücke zu einer visuellen Entsprechung für die sozialistische Marktwirtschaft.

Revolving restaurants everywhere
Die politische Steuerung innerhalb der Stadtentwicklung ist trotz der wirtschaftlichen Liberalisierungsansätze sehr durchschlagskräftig. Die Rigorosität, mit der auf nationaler Ebene Städte und Sonderwirtschaftszonen ausgewiesen werden, setzt sich im städtischen Maßstab mit der Umnutzung riesiger Areale fort. Ein Beispiel dafür ist der neue Olympiapark in Peking. Zu dessen Verwirklichung wurden die Bewohner des zu bebauenden Stadtviertels für den Abriss ihrer Häuser enteignet. Diese Vorgehensweise ist den Chinesen nicht fremd, schon 1966 forderte Mao „destruction for construction“. Dengs Besichtigung der Sonderwirtschaftszone Shenzen im Jahre 1992 prägt einen neuen Mythos. Er nennt ein rotierendes Restaurant als das wichtigste Gebäude der Zone und zeigt somit auf die in Architektur symbolisierte Modernität Chinas und ihren wirtschaftlichen Erfolg. Der vielfach multiplizierte Bautypus des „revolving restaurant“ prägt seitdem das Stadtbild. Dengs Aussage wird kritiklos übernommen, die verordnete Bauweise führt zu einen uniformen und homogenen Stadtraum.

„Stadt der verschärften Differenz“
Rem Koolhaas und die China-Group haben in ihrem Beitrag zur Entwicklung des Pearl River Deltas die nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten explodierende Stadt analysiert. Die Stadtstruktur wird als eine sich dauernd ändernde Akkumulation beschrieben, die sich aus extrem unterschiedlichen Teilen zusammensetzt. Ihr Ansatz einer „Stadt der verschärften Differenz“ 3 versucht gerade nicht nach einer umfassenden Erklärungsformel zu suchen, sondern „begnügt“ sich, eine schier unüberschaubare Anzahl von Fakten und Einzelaspekten zusammenzutragen. Die mit Hochgeschwindigkeit wachsenden Städte sind nicht mehr mit dem herkömmlichen Terminus „Stadt“ zu beschreiben, stattdessen spricht Rem Koolhaas von einer „contemporary urban condition“ .

Wohninseln
Die städtebauliche Struktur der divergierenden Teile Pekings wurde von Barbara Münch mit einer historischen Kontinuität im Bauwesen erklärt 4. Sie beginnt mit der Clan-orientierten Quartierskultur der Hofhäuser, die über Jahrtausende währt und beschreibt weiter die kommunistischen Arbeitseinheiten „danwei“ und die als„ micro-residential districts“ bezeichneten Anlagen von heute. Diese sogenannten„ micro-residential districts“ (xiaoqus) sind räumlich separierte und von Mauern umgebene Wohnanlagen, die eine vielfältige Infrastruktur aus Freizeit-, Konsum- und Verwaltungseinrichtungen aufweisen und somit einen Bereich umfassen, den die Bewohner nur noch zur Ausübung ihres Berufes verlassen.

5000 Jahre China
Die Olympischen Spiele 2008 werden die urbane Entwicklung Pekings weiter antreiben und beschleunigen. Dieses Ereignis wird von China mit Ausrichtung auf "grüne Spiele, Spiele der Hochtechnologie, Spiele für das Volk" nach außen mit einem modernen und offenen Charakter präsentiert. Peking wird somit Aushängeschild und Repräsentant einer neuen chinesischen kulturellen Identität. Die über 5000-jährige Geschichte Chinas ist eines der großen Leitmotive für die Selbstdarstellung während der Olympiade. Zusätzliche Kampagnen sollen die „Agenda 21“ des IOC umsetzen, welche eine nachhaltige Entwicklung der Umwelt und eine politische und soziale Verbesserung im Land fordert. Ein Ziel lautet dabei, die „urbane Zivilisation der Stadt weiterzuentwickeln“ 5, und führt im chinesischen Aktionsplan leider nur zu Verbesserungen der Englischkenntnisse und Höflichkeitsformeln. Damit nutzt die chinesische Führung die politischen Möglichkeiten der „Agenda 21“ nicht. „Verglichen mit den ökonomischen Reformen, fällt unser politisches System weit zurück“ 6 schreibt Zhou Ruijin, der frühere Chefredakteur der Parteizeitung People´s Daily. Die Auswirkungen der Olympischen Spiele zeigen sich vor allem durch einen weitläufigen Stadtumbau, der bereits begonnen hat. Beispiele hierfür sind eine kulturelle Neudefinition der fünf Kilometer langen Zentralachse, der olympische Park im Norden der Stadt, eine neue Ringstraße und die Initiierung von Denkmalschutzprojekten.

Ausblick auf eine neue chinesische Architektur?
„Es bietet sich für Architekten nicht nur die Chance zu bauen, sondern auch aktiv an der Gestaltung des modernen Chinas teilzunehmen“ 7, äußert sich der in Peking ansässige Architekt Chang Yung Ho in der Architekturzeitschrift archplus. Durch das Bewußtsein für die eigene Geschichte und den Forderungen nach politischen Reformen kann Chinas Kultur und Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel erleben. In diesem Zusammenhang beruht eine neue chinesische Architektur auf anderen Kriterien als die der Marktkonformität und Profitgier, nämlich auf historischen und sozialen Inhalten. Sie beeinflußt, durch die Geschwindigkeit mit der sie Gebäude produziert, unmittelbar den gesellschaftlichen Diskurs und kann Vorreiter eines kulturellen Wandels sein.

500 Millionen Chinesen mehr
Die neuen architektonischen Planungen der städtischen Behörden werden, trotz vorhandener alter Stadtstrukturen, rapide umgesetzt. Diese intensive bauliche Phase bietet die Gelegenheit, die Metropole in einem Umbruchzustand zu beobachten. Mein Fokus liegt dabei nicht auf den großen olympischen Bauten, sondern auf Entwicklungen in der allgemeinen Baukultur. Die mit internationaler Beteiligung betriebenen Bauvorhaben der Stadien und Sportstätten werden anderswo genau besprochen. Mich interessieren die rasend wachsenden Wohnanlagen, die den eigentlichen urbanen Raum Pekings bilden. Nach offiziellen Angaben soll bis zum Jahre 2030 die Zahl der Stadtbewohner von zur Zeit 370 Millionen auf 880 Millionen steigen. Zusätzlich wird der Druck auf die Wohnsituation durch eine sogenannte „floating population“ erhöht. Neben der registrierten Stadtbevölkerung leben in Peking etwa drei Millionen illegale Wanderarbeiter. Der rasche Anstieg der Einwohnerzahl und die dafür benötigten Wohnquartiere sind die wichtigsten Fliehkräfte des Stadtwachstums. Le Corbusier hat darauf hingewiesen, dass „die Schaffung einer Wohnung als ein Werk der menschlichen Erfindungsgabe: Ethik und Ästhetik zugleich “ 8 ist. Der Wohnungsbau ist ein Beleg für den gesellschaftlichen und architektonischen Zustand eines Landes und seit jeher Experimentierfeld für grundlegende Veränderungen der Architektur.

Arbeitsvorhaben und Zeitplan
Wieviel Zimmer sind genug?
In China werden auf Baugrundstücken Ausstellungspavillons der Maklerfirma errichtet, in denen Ansichten, Modelle und vorbildhafte Inneneinrichtungen der zu verkaufenden Immobilie zu sehen sind. Die Gestaltung dieser Showrooms und die ansprechende visuelle Vermittlung von Architektur sind ein Spiegel der allgemeinen Baukultur, in der man in komprimierter Form sowohl die Wünsche und Bedürfnisse der Käufer, als auch Gestaltung und Bautechnik der Architektur ablesen kann. Ich möchte diese Ausstellungspavillons auf der Suche nach einem innovativen Wohnungsbau aufsuchen und fotografisch dokumentieren. Des weiteren plane ich Bewohner und Architekten, speziell Herr Chang Yung Ho (Büro Feichang Jianzhu) und Herr Ma Qingyuan (Büro MADA) in bezug auf folgende Themen zu interviewen und die Aussagen zusammenfassen:

1. Historische Kontinuität
Traditionelle Hofhäuser (siheyyuans) haben Pekings Stadtbild bis zum Kommunismus geprägt. Sie werden aktuell von Hochhauszonen und uniformen Appartementhäusern der sogenannten „micro-residential districts“ ersetzt. Die Anlage der Hofhäuser beruht auf definierten sozialräumlichen Trennungen und rechtwinkligen Raumsequenzen. Anstelle der „Tabula Rasa“ Methode stellt die zeitgemäße Überführung dieser städtischen Wohnform ein architektonisches Umdenken dar. Beispiel hierfür ist das Projekt eines Hofhausteppichs in Peking, realisiert 2001 von dem Architekturbüro Feichang Jianzhu. Wie sind historische Kontinuität, Geschwindigkeit des Bauens und Marktkonformität in Einklang zu bringen? Kann das städtebauliche Gefüge der Hofhausquartiere für den gestiegenen Wohnraumbedarf der Metropole methodisch angeeignet werden?

2. Informeller Urbanismus
Der Wohnungsbedarf der sozial schwachen „floating population“ wird von der chinesischen Führung nicht debattiert. Im Gegenteil, der soziale Wohnungsbau wurde eingestellt und privaten Maklern oder Investoren überlassen. Armut, fehlende soziale Sicherheit und mangelnder Wohnraum führen zu einem informellen Urbanismus, der durch bauliche Selbsthilfe und illegale Strukturen geprägt ist. Dabei werden sowohl die Zeilenbauten der 1950er bis 1970er Jahre, als auch die alten Hofhausquartiere mit einer Vielzahl von improvisierten Anbauten verändert. „Egal wie groß die Wohnung ist, sie ist immer ein Raum zu klein “ besagt ein chinesisches Sprichwort und ermutigt damit die Bewohner zum maßgerechten Umbau ihrer zu kleinen Räumlichkeiten. Uniforme Architektur wird so individualisiert und erzeugt eine kleinteilige Stadtstruktur. Wo liegen die Vorteile dieses dynamischen städtebaulichen Prozesses? Wie können durch sensible und qualitative Maßnahmen die hygienischen und infrastrukturellen Mängel dieser Stadtstruktur beseitigt werden?

3. Mutation der „micro-residential districts“
Die einzelnen Wohngebäude der „micro-residential districts“ sind keine architektonischen Einzelentwürfe, sondern Baukörper, die innerhalb eines ummauerten Areals als exakte Kopien vielfach nebeneinander gestellt werden. Diese Quartiere verstehen sich nicht als Teil des Stadtraumes, sondern als abgeschlossene und autonome Zellen, die keinen öffentlichen Raum bilden. Trotzdem führt die gemeinschaftliche Nutzung zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gebiet und zu einer Gruppe von Menschen. Wie können diese Wohnquartiere in eine flexible und lebendige Stadtstruktur eingegliedert werden und dabei widererkennbar für die Bewohner bleiben? Welche Strategien können entwickelt werden, um die uniforme und homogene Architektur der abgeschlossenen Wohnquartiere für individuelle Bedürfnisse der Bewohner aufzubrechen? Gibt es ein Potential für städtebauliche Veränderungen der „ micro-residential districts“ durch Aneignung der kleinteiligen Struktur eines informellen Urbanismus?

4. Der Baukasten
Durch Kontakt zu den Bewohnern werden die verschiedenen Materialien, die der baulichen Verwirklichung von individuellen Bedürfnissen dienen, ermittelt und gesammelt. In einem von mir zusammengestellten Baukasten sollen diese Gegenstände aus dem Zusammenhang der alltäglichen Benutzung in eine Präsentationsform überführt werden. Die einzelnen Bestandteile der informellen Architektur werden so sichtbar gemacht. Der Baukasten wird zum benutzbaren Objekt für ein anschauliches Verständnis urbaner Strategie. Der artifizielle Blick des Baukastens soll beispielhaft auf die sich ständig ändernde Akkumulation der Metropole hinweisen.

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1 Deng Xiaoping: How to Restore Agricultural Production
2 Stan Fung, Zhao Yang: Kommende chinesische Architektur, archplus, Februar 2004
3 Rem Koolhaas: The Great Leap Forward, Harvard Design School, 2001
4 Barbara Münch: Verborgene Kontinuitäten des chinesischen Urbanismus, archplus, Februar 2004
5 UN Conference on Enviroment and Development: The Generic Principles of the Olympics Movements Agenda 21
6 Zhou Ruijin: Rumbles for Reform are Heard in China, in: The New York Times, August 30, 2004
7 Chang Yung Ho: Das Büro Feichang Jianzhu, archplus, Februar 2004
8 Le Corbusier: Der Modulor, DVA, 1985